„Wandervogel“: Der Begriff ist in die Lexika eingegangen als Name der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung seit 1901. Tatsächlich war „Wandervogel“ ein gängiges Bild in Volks- und Studentenliedern und in der Literatur seit dem Barock und der Romantik mit wechselnden Bedeutungen: Fahrender Gesell, Scholar, Pilgrim, Vagant, Landstreicher; schließlich der Inbegriff von Fernweh und Sehnsucht nach Neuem, Verlassenheit und Wiederkehr ins Vertraute. Entstehung, Wanderungen und Wandlungen des literarischen Bildes werden hier verfolgt und vorgeführt. In der populären Literatur und Musik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts findet sich der Topos massenhaft und trivialisiert.
In der Jugendbewegung wurde „Wandervogel“ zum Synonym des „neuen Menschen“, zum zentralen Schlagwort einer Ideologie von der Heilung der verdorbenen Zeit und Gesellschaft aus der Kraft der Jugend. Die Wirklichkeit war anders. Gegründet und angeleitet von Honoratioren des wilhelminischen Bildungsbürgertums, dabei den Mythos einer spontanen Jugendkultur sorgsam pflegend, war diese Jugendbewegung tatsächlich in den konservativen Reformbewegungen der vorigen Jahrhundertwende verhaftet. Und mehrheitlich wanderte sie längst vor dem Ersten Weltkrieg in das Lager der Völkischen Bewegung.
Inhalt
Prolog
1. "Triffst du nur das Zauberwort"
2. Ein Verein wird gegründet
3. "Wer hat euch Wandervögeln die Wissenschaft geschenkt ..."
4. Ein Pilgerlied wird erfunden
5. Ein Schlager wird adoptiert
6. Eine Legende wird vervielfältigt
7. "Über'n Garten durch die Lüfte"
8. "Könnt' ich einmal mit dir ziehn ..."
9. Ein poetisches Bild wird umgangssprachlich
10. Ein Idealbild wird montiert
11. Eine Ideologie des Wanderns
12. Ein Weg ins völkische Lager
13. Ein Abstecher in die Kunstgeschichte
14. Fazit
Epilog 1
Epilog 2
Dank
Bibliografischer Hinweis
Abbildungsnachweis
Literaturverzeichnis
Organisationenregister
Personenregister
Textprobe
Fazit: Die fast monomanische Ausübung und heilsgeschichtliche Überhöhung des Wanderns, auch die Konstruktion eines idealen Wandervogels aus literarischen Versatzstücken der Romantik und ihrer Nachfahren geben zu denken. Krisen und mentale Umbrüche einer Gesellschaft werden auch an ihren Visionen von einer besseren Welt deutlich. Der Wandervogel also – ein spätromantisches Konzept von Jugend, erfunden von den „Wilhelminern“ als Ausweg aus der Identitätskrise des Bürgertums um 1900? Jugend – ein „Modell für das Jungwerden der Welt“, das sich seine Ideen aus verklärten Vergangenheiten in die undurchschaubar und bedrohlich gewordene Gegenwart holt? Diese Annäherung an die Jugendbewegung ist verlockend plausibel. Sie darf freilich die Vielschichtigkeit des Phänomens nicht leugnen. Diese Jugendbewegung blieb in viele Richtungen interpretierbar und nutzbar.
Eine Dimension des Wandervogels scheint aus den überlieferten schriftlichen Quellen nur selten auf: das unmittelbare Erleben der jugendlichen Akteure. Während die erwachsenen Freunde und Förderer sich abmühten mit dem Spagat zwischen den wohl oder übel zugestandenen Freiräumen jugendlichen Eigenlebens und den Forderungen sozialpädagogisierender Jugendpflege, lebten die Jungen in glücklichen Stunden in ihren Gemeinschaften ihr reicher gewordenes Leben. Das allerdings ist originell und innovativ an dieser aus dem mittelständischen und kleinbürgerlichen Milieu geborenen Jugendkultur: ein „lebensgeschichtlich bedeutsames Mehr an Handlungsspielraum und Selbstbestimmung“, als es den meisten Altersgenossen im Kaiserreich vergönnt war. Die Wandervögel suchten und fanden „ein selbständiges Lebensmuster des Jungseins mit eigenen Anspruchsprofilen und Verhaltensweisen“. „Mit diesem Tage begann das Glück meiner Jugend“, beschrieb Hans Blüher den Tag seiner Aufnahme in den Wandervogel.
Manfred Hausmann (1898-1986), der eine Generation später mit dem Göttinger Alt-Wandervogel durch das Werratal zog und dieses prägende Erleben in seinen autobiografischen Aufzeichnungen und in seinen literarischen Gestalten nie verleugnete, schrieb: „Sie fanden etwas bei ihrem Unterwegssein, das die in Bequemlichkeit, Beharrung und gesellschaftlichen Formen erstarrten Menschen um sie her nicht mehr zu kennen schienen: die Jugend, sich selbst, das Leben, das ungebrochene Leben. Und indem sie sich selbst als Jugend fanden und lebten, erschloß sich ihnen ringsum eine Welt, die ihrem Jungsein entsprach, in der Natur, in den Äußerungen des schöpferischen Geistes, in der Geschichte, in der Religion. Sie eigneten sie sich an, nicht, um darüber zu philosophieren, sondern um mit ihr, in ihr zu leben. Darum konnten sie nicht sagen, was sie waren und was sie wollten. Sie waren ein Stück des Lebens. Und das Leben kann man nur leben, aber nicht sagen.“
Also gibt es sie doch – eine „eigentliche“ Jugendbewegung, die sich dem auf papierene Dokumente angewiesenen Blick des Historikers entzieht und nur dem erschließt, der das Zauberwort trifft? Mit diesem Argument haben die „Dabeigewesenen“ jahrzehntelang die analytische Beschäftigung mit ihrem „Jugendschicksal“ als unzulässig zurückgewiesen. Die Gegenargumente haben sie selbst geliefert: Eine Gruppe, die so exzessiv Papier beschrieben und bedruckt und die so unentwegt an ihrer Selbstinszenierung vor historisierenden Kulissen gearbeitet hat, muss es sich gefallen lassen, auch und gerade an diesen Selbstzeugnissen gemessen zu werden.
Es sei denn, der ganze schriftstellerische Aufwand war distanziertes Spiel und nicht Ausfluss der von der eigenen Ernsthaftigkeit ergriffenen Seelen „faustischer Sucher“ – wie der Theologe Hermann Schafft (1883-1959) den „jugendbewegten Menschen“ später nannte.Das allerdings wäre „romantische Ironie“ im Sinne des Philosophen Friedrich Schlegel (1772-1829) gewesen: das Bewusstsein des modernen Menschen von der Welt als unauflösbar paradox, das Spiel des Dichters mit sich selbst, mit dem Leser und der Literatur als „steter Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“.Doch diese Form der Auseinandersetzung mit ihrer Zeit und Welt war der deutschen Jugendbewegung fremd. So fremd, wie ihr die Dichtung der Romantik überhaupt blieb.
Das klingt nun nach allen hier vorgeführten Beispielen der Anverwandlung von Literatur paradox und ist doch nur die kühle Beobachtung eines großen Missverständnisses. Man bedenke: Da gab es im Abstand von rund einhundert Jahren vergleichbare historische Situationen: Zeitenwende mit krisenhaft erfahrenem Verlust alter Ordnungen und Sinnsysteme, verschärften sozialen Gegensätzen, siegreichem Vormarsch ökonomischen und technologischen Denkens und Handelns. Da gab es die vergleichbar scheinenden Versuche, die Gegenwart durch Rückbesinnung auf das Vergangene zu erneuern. Doch die Antworten waren grundverschieden. Die Romantiker setzten der rationalistisch erklärten Welt ihre künstlerischen Gegenwelten entgegen und lebten so mit dem verwirrenden, verstörenden, spielerischen, distanzierten, sich selbst immer neu in Frage stellenden „Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mittheilung“. Die Wandervögel mit ihrem Drang zur Aktion kannten solche Distanzierung von sich selbst, solche Differenzierung zwischen Poesie und Leben, zwischen Traum und Wirklichkeit nicht.Sagen wir es noch einmal mit Hans Breuer: „Aus den grossen Häusermeeren steigt das neue Ideal: Erlöse Dich selbst, ergreife den Wanderstab und suche da draussen den Menschen wieder, den Du verloren hast, den einfachen, schlichten, natürlichen. Da hatte die Jugend eine neue Heilswahrheit – selber gefunden.“
So spielten sie die romantische Literatur nach und verfielen dabei doch auf eine eher einspurige Lösung der Sinnfragen ihrer Zeit: den naiven Glauben, die gelebte Jugend an sich sei der Inbegriff von Zukunft, der Aufbruch zu neuen Ufern, die Heilung der kulturellen Krisen. Eine altbekannte Beschwörungsformel also, die immer wieder von Verkündern einer jeweils „neuen Zeit“ aufgerufen wurde. Aus der alles andere als idyllischen Romantik, verharmlost durch die Übersetzungen der Roquettes und Kletkes und Baumbachs, und aus den Volksliedern, vermittelt durch ihre völkischen Interpreten, holten die Wandervögel sich nur die Wanderpoesie, die Bilder, die rauschhaften Stimmungen, die Sentimentalität, und dies als Klischee vom Klischee – Beschwörungen einer Jugend der Zukunft mit verbrauchten Metaphern der Vergangenheit. Sie hatten, wie es der mit der Jugendbewegung sympathisierende Historiker Ulrich Noack (1899-1974) in anderem Zusammenhang formulierte, keine „gedankenklare schützende Gestalt für ihr großherziges Gefühl gefunden“. (...)
(Die Anmerkungen, Literatur- und Quellennachweise sind in diesem Textauszug weggelassen.)