Anatol Hentzelt

 

Der Deutschbalte Anatol Hentzelt (1858-1922) gehörte zu den bekannten und beliebten Ärzten Berlins, und doch gibt es in Berlin von ihm keine Spuren mehr außer einer Todesanzeige und einem Nachruf in der Zehlendorfer Lokalzeitung. Er zählte zu den Gründervätern der Wandervogel-Bewegung, doch in der älteren Literatur zur Jugendbewegung sind nur sein Familienname, sein Doktortitel und sein Beruf bekannt. Eine historische Recherche erbrachte ein Lebensbild des weit gewanderten Mediziners und seiner Familie.

   

 

 

    

                                    

Undatiertes Porträtfoto aus dem                                    Familienarchiv Hentzelt

Todesanzeigen aus dem „Zehlendorfer Anzeiger“, 1. Juni 1922

 

 

Winfried Mogge

Von Mohilew nach Zehlendorf

Auf den Spuren des Arztes Dr. Anatol Hentzelt (1858-1922)

 

Aus: Jahrbuch 2009 für Zehlendorf. Altes und Neues von Menschen, Landschaften und Bauwerken, hg. vom Heimatverein Zehlendorf (1886) e. V., Zehlendorf 2008, S. 23-27 (dort mit weiteren Abbildungen).

 

„Am 31. Mai 1922 wurde Herr Sanitätsrat Dr. Anatol Hentzelt durch einen sanften Tod von seinem Leiden erlöst.“ So heißt es in einer Anzeige des Ärztevereins für Zehlendorf und Umgegend im „Zehlendorfer Anzeiger“ vom 1. Juni 1922. Und weiter: „Zehlendorf verliert in ihm eine markante Persönlichkeit, einen aufrechten Mann, der mit Hingabe und Uneigennützigkeit dem Wohle seiner Mitbürger und besonders seiner zahlreichen Kranken sich widmete. Trotz der schwersten Heimsuchungen, die ihm auferlegt waren, hat er in vorbildlicher Weise seine Pflichten erfüllt, bis seine Kraft versagte.“

24 Jahre lang war der Deutschbalte mit dem altgriechischen Vornamen praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer in Zehlendorf. Das „Adreßbuch der Gemeinde Zehlendorf“ und das „Berliner Adreßbuch“ nennen ihn zunächst unter der Anschrift Hauptstraße 46 II, ab 1901 Königstraße 8 I. Zweifellos kannte er jedes Haus, jede Familie in seiner Wahlheimat. Wie vielen Zehlendorfern mag er auf dem Weg an das „Licht der Welt“ geholfen haben? Seine Spuren vor Ort sind jedoch verweht, sein Urnengrab auf dem Städtischen Friedhof Zehlendorf ist längst aufgelassen und eingeebnet. Die eigenen Kinder starben offensichtlich ohne Nachkommen, ein schriftlicher Nachlass ist nicht auffindbar. Die Berliner biografische Literatur kennt den Zehlendorfer Arzt nicht. Dabei ist Anatol Hentzelt nicht nur eine lokalgeschichtlich interessante Persönlichkeit, sondern auch ein Beispiel für die Anziehungskraft der aufstrebenden Gemeinden um Berlin um die vorletzte Jahrhundertwende.

Beharrliche Suche führte zu Verwandten, denen Anatol Hentzelt als Großonkel noch ein Name ist – und zu einer unveröffentlichten Familienchronik. Der Rigaer Apotheker Woldemar Hentzelt (1877-1968) hat sie nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit 1942 für die in Kurland, Rußland, Thüringen und Bayern verstreute Familie mit den Namensformen Hentzold, Hensold, Hensolt, Henselt, Hänselt und Hentzelt zusammengestellt und 1933 auch ein altes Familienwappen in die „Deutsche Wappenrolle“ eintragen lassen („In Blau ein oben und unten von je einem flüchtigen silbernen Fuchs begleiteter silberner Balken“). So gewinnt ein vergessener Name wieder Gestalt.

 

Arzt auf Wanderschaft

Gotthard Rudolph Anatol Hentzelt hatte einen weiten Weg zurückgelegt, bevor er sich im Jahr 1898 in Zehlendorf als Arzt niederließ. Er wurde geboren am 14. Dezember 1858 in dem Flecken Chotimsk bei Klimowitschi. Der Arztberuf des Vaters hatte die Familie in die Nähe der kleinen Kreisstadt des russischen Gouvernements Mohilew verschlagen. Der Vater Friedrich Robert Hentzelt (1819-1894) stammte aus Kandau in Lettland; er hatte in Moskau Medizin studiert und nach mehreren Ortswechseln eine Anstellung als Haus- und Gutsarzt eines polnischen Magnaten gefunden. Er heiratete am 8. Juli 1844 in Kandau die Försterstochter Antonie Fabian (1824-1891) und bekam mit ihr zehn Kinder.

Anatol war das sechste Kind und wurde im Elternhaus zunächst von den älteren Schwestern unterrichtet. Seit 1870 besuchte er deutsche und russische Gymnasien in Mitau, Woronesch und Libau, untergebracht jeweils bei Verwandten. 1878 zog er als Medizinstudent auf die Kaiserliche Universität Dorpat (heute Tartu), wo vor ihm schon mehrere Mitglieder der weitverzweigten Familie eingeschrieben waren. Dort eröffnet sich dem Historiker eine weitere Lebensspur: Im Universitätsarchiv wird Hentzelts Personalakte verwahrt mit Belegbuch und Zeugnissen und Aufzeichnungen von Krankengeschichten, mit der gedruckten Dissertation („Ueber die Behandlung der subcutanen Querfracturen der Patella, unter besonderer Berücksichtigung der Punction des Gelenkes und der Knochennaht“, 1883), dem Doktor-Diplom (vom 24. Mai 1883), dem Kreisarzt-Examen (vom 31. Dezember 1883).

Dem Studium folgten eine Bildungsreise durch Kliniken in Deutschland und in kurzer Folge Anstellungen als Land-, Fabrik- oder Sanitätsarzt in der Provinzhauptstadt Charkow, in Lievenhof (Witebsk), Dunajevzy (Podolien), Salis (Livland), Zintenhof (Pernau). Um seine beruflichen Chancen zu verbessern, legte Hentzelt 1891 in Königsberg das für Deutschland erforderliche Medizinische Staatsexamen ab. Am 29. Dezember 1885 hatte er seine Jugendfreundin, die Pastorentochter Klara Ullmann (geboren am 26. Juni 1864 in Szaimen in Litauen, gestorben am 22. September 1919 in Zehlendorf) geheiratet. Mit den inzwischen drei Kindern zog das Paar 1891 nach Groß-Zünder bei Danzig, 1896 nach Heppens bei Wilhelmshaven, ein Jahr darauf nach Lamstedt bei Stade, bis man endlich in Zehlendorf bei Berlin eine auskömmliche Arztpraxis eröffnete und seßhaft wurde. Die Verleihung des Sanitätsrats-Titels und der Nachruf der Standesorganisation zeugen von der beruflichen Stellung und der gesellschaftlichen Reputation, die Hentzelt hier erlangte.

Während der Großvater zwölf, der Vater zehn Kinder hatte, begnügten Anatol und Klara Hentzelt sich mit zwei Söhnen und einer Tochter. Wolfgang wurde am 12. Februar 1888, Kurt am 24. Februar 1889 in Zintenhof geboren, die Tochter Edith kam dort am 30. Dezember 1890 zur Welt. Beiden Söhnen schienen glänzende berufliche Karrieren beschieden. Wolfgang studierte in Berlin und München, Kurt in Berlin und Erlangen. Der ältere wurde Architekt und Diplom-Ingenieur und gewann 1910 einen Wettbewerb mit dem Entwurf einer „Evangelischen Landkirche mit Pfarrhaus“. Der jüngere verfiel der Mathematik und den Naturwissenschaften; seine unvollendete Dissertation „Zur Theorie der Formenmoduln und Resultanten“ wurde von der Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) überarbeitet und brachte ihrem Verfasser die posthume Promotion ein. Beide Söhne endeten wie so viele ihrer Altersgenossen: Sie zogen begeistert in den Krieg, wurden alsbald verwundet und schienen doch am Sinn freiwilliger gefährlicher Einsätze nicht zu zweifeln; Kurt wurde seit dem 21. Oktober 1914 in Westflandern vermisst, Wolfgang fiel am 19. September 1916 in Ostpreußen.

Für die Eltern Hentzelt war der Verlust der Söhne wohl der Schicksalsschlag, von dem sie sich nicht mehr erholten. Klara starb 1919 mit nur 55 Jahren, Anatol folgte drei Jahre später mit 63 Jahren nach einem zweiten Schlaganfall.

Die einzige Tochter Edith besuchte das Lyzeum in Zehlendorf und die Kunstgewerbeschule in Berlin. Am 30. September 1921 heiratete sie ihren Vetter, den Diplom-Ingenieur Theodor Ullmann, von dem die Familienchronik keine Daten weiß. Nach 1943 verlieren sich ihre Spuren.

Es sind keine persönlichen Dokumente von Anatol Hentzelt erhalten, die Auskunft geben könnten über sein privates Leben, seine Neigungen oder gar die politischen Ansichten. Ein Porträtfoto zeigt ihn als alten Herrn in feiner dunkler Kleidung mit Fliege; der Kopf ist hager, ein struppiger Schnurr- und Kinnbart verdeckt den Mund und lässt ein Lächeln kaum ahnen, die hellwach prüfenden Augen ziehen den Betrachter in ihren Bann.

 

Mitgründer der Wandervogel-Bewegung

Eine weitere Spur indes verrät ein wenig über die außerberuflichen Tätigkeiten des Arztes. Am 4. November 1901 wurde im Steglitzer Ratskeller der Wandervogel, Ausschuß für Schülerfahrten gegründet. Nach etwa zehnjährigem Vorlauf als Stenographie- und Schülerwanderverein entstand hier eine Jugendbewegung, die sich bald über ganz Berlin und Deutschland ausbreitete. In der Geschichtsschreibung hält sich hartnäckig der Mythos, dies sei eine spontane Jugendkultur gewesen, gar eine Rebellion der Jungen gegen die Welt der Väter und Lehrer. Tatsächlich handelte es sich um eine Gründung von Erwachsenen, die sich in den bildungsbürgerlichen, konservativen Reformbewegungen der Jahrhundertwende engagierten. Den Wandervogel hielten seine Gründer an der „langen Leine“, den Mitgliedern aber bereiteten sie bis dahin unerhörte Erlebnisse von selbstgestalteter Gemeinschaft und jugendlichen Freiräumen.

Anatol Hentzelt gehörte zu den Initiatoren und Vereinsvorständen. In den Quellenschriften zur Jugendbewegung ist er nur mit seinem Nachnamen, dem Doktortitel und dem Beruf notiert, und so findet er sich in einer Reihe mit damals bekannten Schriftstellern: Wolfgang Kirchbach (1857-1906), Heinrich Sohnrey (1858-1948), August Heinrich Hagedorn (1856-1925), Hermann Müller-Bohn (1855-1917), und einigen Absolventen des Steglitzer Gymnasiums um den frischgebackenen Studenten Karl Fischer (1881-1941).

An dem wenige Jahre zuvor gegründeten Gymnasium Zehlendorf entstand schon 1902 eine Wandervogel-Gruppe, die sich bald mit 20 bis 28 Mitgliedern als Ortsgruppe des 1904 neu gebildeten Steglitzer Wandervogels E. V. verselbständigte. In der Literatur ist die bisher nicht bekannt. Protektor war hier der junge Oberlehrer Conradin Brinkmann (1873-1956), der zum begeisterten Förderer des Jugendwanderns, des Schülersports und des Steglitzer Heimatvereins wurde. Die Zehlendorfer Gruppe entwickelte ein reges Eigenleben mit „Nestabenden“ im Musiksaal der Schule, mit Tageswanderungen und ausgedehnten Wanderfahrten unter spartanisch einfachen Lebensbedingungen in den Ferien. Wolfgang und Kurt Hentzelt, Zehlendorfer Abiturienten von 1907 und 1908, waren von Anfang an dabei – und so geriet wohl ihr Vater Anatol in die Gruppe der Gründungsväter der deutschen Jugendbewegung.

 

 

Literatur:

Hasselblatt, Arnold / Otto, Gustav: Album Academicum der Kaiserlichen Universität Dorpat, Dorpat 1889.

Brennsohn, Isidorus: Die Aerzte Livlands von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Mitau 1905.

Deutsche Wappenrolle bürgerlicher Geschlechter, Bd. 2, Leipzig 1938.

Gymnasium zu Zehlendorf, Jahresbericht, 1902-1915.

Kindt, Werner: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896-1919, Düsseldorf / Köln 1968.

Mogge, Winfried: „Ihr Wandervögel in der Luft...“. Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, Würzburg 2009.

 

Quellen:

Ajalooarhiiv Tartu, Bestand 402/9384, 402/9385.

Familienchronik Hentzelt, im Besitz von Liselotte und Hubert Hentzelt, Friedland.

http://www.architekturmuseum.ub.tu-berlin.de/index

http://www.physikerinnen.de/noetherpublikationen.html

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