Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse

Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen

Peter Lang Edition / Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2013

1.256 Seiten, gebunden

ISBN 978-3-631-62396-1

 

 

Kurztext

 

"Reformpädagogik" ist ein schillernder Begriff. In der neueren Forschung wird die Reformpädagogik in Deutschland meist verstanden als kritische Reaktion auf das System pädagogischer Institutionen und Praktiken des 19. Jahrhunderts. Reformpädagogische Initiativen entwickelten und erprobten damals eine Vielzahl produktiver Ideen, Konzepte und Modelle und bestimmten den pädagogischen Diskurs bis 1933 und erneut nach 1945 wesentlich mit.

Das von Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt herausgegebene Sammelwerk vereint 24 Autorinnen und Autoren in dem Bemühen, die gesellschaftlichen Kontexte, Leitideen und Diskurse, Praxisfelder und Handlungssituationen der historischen Reformpädagogik darzustellen, zu systematisieren und in ihrer Vielfalt zu vergegenwärtigen.

Ein Beitrag von Winfried Mogge untersucht das Verhältnis von Jugendbewegung und Reformpädagogik. Dabei werden erstmals die "bürgerliche" und die "proletarische" Jugendbewegung zusammen betrachtet.  Die wechselseitigen Anziehungen und Abstoßungen der jugendbündischen und reformpädagogischen  Organisationen und Protagonisten werden vorgeführt und ergeben ein Bild voller Widersprüche. Die folgende Textprobe bildet Anfang und Schluss dieses Beitrags.

 

 

Textprobe

 

Aus: Winfried Mogge, Jugendbewegung. In: Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890-1933), hg. von Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt. Frankfurt am Main: Peter Lang 2013, Teil I S. 215-256.

 

Einführung

„Alles, was in den 1920er Jahren an pädagogischen Reformen unternommen, an Stätten neuer Methoden, an neuen Schulen entwickelt worden ist, wurde von einem Personenkreis getragen, der aus der Jugendbewegung hervorgegangen oder mindestens von ihr berührt worden ist: die Lehrerkollegien der Landerziehungsheime, der großstädtischen Versuchsschulen, die neuartigen Experimente in der Sozialpädagogik, der Rudolf-Steiner-Schulen, die Volkshochschulbewegung und noch der Beginn akademischer Lehrerbildung und pädagogischer Hochschulen nach 1924 sind durch Personen wie Ideen der Jugendbewegung belebt worden.“

Diese pointierten Sätze, die Wilhelm Flitner 1968 mit Blick auf die bürgerliche Jugendbewegung schrieb, könnten das Motto für den gesamten Diskurs zum Thema „Reformpädagogik und Jugendbewegung“ sein. In der zeitgenössischen wie in der neueren Literatur ist es eine kaum einmal hinterfragte Feststellung: „Reformpädagogische Bewegung“ und „Jugendbewegung“ hatten ein symbiotisches Verhältnis zueinander. Beide entstanden aus dem Protest sensibler Eliten gegen das Erziehungssystem ihrer Zeit, auch aus dem Aufstand der „Jugend“ gegen das „Alter“. Die Schulen und sonstigen Projekte der Reformpädagogik bezogen aus den Bünden die alternativen Lebens- und Gemeinschaftsformen, und umgekehrt suchte man die Umsetzung der Visionen von einem „neuen Menschen“ und einer jugendlich erneuerten Gesellschaft in der Arbeit der Reformpädagogen.

Von vereinzelten Begegnungen zwischen Reformpädagogik und Jugendbewegung in der Gründungsphase der Wandervogel-Bünde abgesehen, gab es vor dem Ersten Weltkrieg allerdings kaum nennenswerte Kontakte und Kenntnisnahmen. Das änderte sich schlagartig um 1913. Scheidedatum war nicht, wie sonst so oft, der Krieg, sondern das spektakuläre öffentliche Auftreten des Wandervogels e.V. und der Freideutschen Jugend mit Tagungen, Resolutionen, Zeitschriften und auch Skandalen in der allgemeinen Endzeitstimmung am Vorabend des Krieges. Zu dieser Zeit entdeckten Pädagogen die in Bünden verfasste Jugend als Potential für die Erneuerung der alten Gesellschaft, umgekehrt suchten Wandervögel und Freideutsche bei Pädagogen Wegweisungen in die Zukunft – ein Vorgang, der differenziert betrachtet werden muss, weil es angesichts der ideologischen Unterschiede der Personen und Gruppierungen keine einheitlichen Aussagen über Richtungen und Ziele geben konnte und kann. Nach 1918 entstand dann das weite Geflecht von Kooperationen und wechselseitiger Beeinflussung. Jugendbewegung und Reformpädagogik sahen sich nun gleichermaßen in die Pflicht genommen als Retter einer zerstörten Gesellschaft – berufen zur Stiftung von „Sinn“ und „Einheit“ nach der Katastrophe, wie immer die „neue Ordnung“ auch aussehen möge. Zu der zwischen konservativen und sozialistischen Entwürfen changierenden bürgerlichen Jugendbewegung trat die revolutionäre Arbeiterjugend, die sich aus der Vormundschaft der Parteien lösen konnte. Das Interesse der „Reformpädagogischen Bewegung“ war ihnen allen gewiss.

Die konkreten Begegnungen beider „Bewegungen“ waren bei näherem Hinsehen erstaunlich selektiv; viele Zusammenhänge wurden erst von den Theoretikern und Historikern beider Seiten nachträglich konstruiert. Die Schnittmengen sollen im folgenden Beitrag mit Beispielen aus den Bereichen der bürgerlichen und der proletarischen Jugendbewegung gezeigt werden. Die konfessionellen Bünde bleiben dabei unberücksichtigt – diese entfalteten ihre jeweils eigene Geschichte und Pädagogik, die gesonderter Betrachtung bedarf. Die katholischen und evangelischen Jugendbünde profilierten sich gegen die traditionellen kirchlichen Verbände und das in Regelwerken erstarrte religiöse Leben der Amtskirchen; von der Reformpädagogik wurden sie dennoch nicht ernst genommen. Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland spiegelte die Spaltungen der deutschen Juden in Parteien und Religionsgemeinschaften zwischen Assimilierten und Zionisten, Orthodoxen und Liberalen und entwickelte über ihre Pädagogik eine eigene religiös-jüdische oder national-jüdische Identität.

Die Literatur zur Jugendbewegung ist kaum noch überschaubar; Quellen sind reichlich vorhanden und in Spezialarchiven gut erschlossen. Trotzdem ist das Verhältnis von Reformpädagogik und Jugendbewegung bisher nicht systematisch und übergreifend untersucht worden. Erste wissenschaftliche Publikationen arbeiteten einäugig mit Blick auf die bürgerlichen Bünde hier, die sozialistische Arbeiterjugend dort. Erste Fallbeispiele für die Wechselwirkungen von Schule und Jugendbewegung in einzelnen Regionen ergab ein Symposion des Bayerischen Schulmuseums Ichenhausen und der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Hinzu kamen einige wenige pädagogik- und begriffsgeschichtliche Studien sowie verstreute Aufsätze zu Einzelaspekten. Aus deren Erträgen kann man eine Art pädagogisches Programm der bürgerlichen Jugendbewegung zusammenziehen, das auch auf die Reformpädagogik wirkte: die Idee von der Schaffung eines „neuen Menschen“ durch Erziehung, das Leitbild der Führerpersönlichkeit als „Sozialisationsagent und Identifikationsobjekt“, die Bildung eines durch pädagogische Leistung legitimierten und partnerschaftlich agierenden Lehrers; Bund und Gruppe als Sozialisationsform der Jugend und Alternativmodell zur Gesellschaft; Selbsterziehungsgemeinschaft und Lebensgemeinschaft als Ersatz traditioneller Erziehungskonzepte. Diese Leitbilder lassen sich teilweise auch auf die Arbeiterjugendbewegung übertragen, wobei dort die Erziehung zum „sozialistischen Menschen“ in einer solidarischen Gemeinschaft die eindeutige Maxime war.

Das „Handbuch der Pädagogik“ von Herman Nohl und Ludwig Pallat (erschienen 1928-33) gab jahrzehntelang die Aussagen zum Thema „Reformpädagogik und Jugendbewegung“ vor. Dort wurden Wandervogel, Freideutsche Jugend und Bündische Jugend als maßgebliche Bestandteile des historischen Konstruktes „Pädagogische Bewegung“ beschrieben – eine Deutung, die sich bis heute durchzieht. Dabei gehörte es zum Standard, die bürgerliche Jugendbewegung als selbstständig und jugendautonom bis revolutionär zu definieren (und somit gründlich misszuverstehen), bis hin zu ihrer Interpretation als Teil der „Freiheitspädagogik“, gar als „kopernikanische Revolution in der Erziehung“. In der neuesten deutschen Literatur zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik wurde die Jugendbewegung höchst unterschiedlich beachtet – von der Nichtbehandlung über die Erwähnung als Hintergrundwissen oder Lieferant einiger Leitbegriffe bis zur ausführlichen Darstellung ihrer Strömungen und Wirkungen. Die Arbeiterjugendbewegung passte fast nirgends in das Schema.
(...)

 

Nachwirkungen

Kontinuitäten oder Diskontinuitäten der Jugendbewegung über 1933 hinweg sind erst in Ansätzen untersucht. Wieweit haben die in den völkischen Bünden entwickelten Vorstellungen die nationalsozialistische Pädagogik beeinflusst? Nach Jahrzehnten meist emotional geprägter Diskussion bieten neuere Arbeiten über das Erziehungssystem des Nationalsozialismus gesicherte Antworten und Maßstäbe für künftige Forschungen. Nachwirkungen der Jugendbewegung in der Pädagogik nach 1945 lassen sich in ungezählten Spuren verfolgen, die ebenfalls einer systematischen Suche und Aufbereitung harren. Einige Hinweise in summarischer Auflistung ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Zahlreiche sich neu zusammenfindende Freundeskreise gründeten nach Kriegsende bündische Gruppen, Tagungsstätten und Zeitschriften, versuchten an Traditionen vor 1933 anzuknüpfen, die Militärregierungen von den Unterschieden zwischen Bündischer Jugend und Hitlerjugend zu überzeugen und das deutsche Erziehungs- und Bildungswesen zu beeinflussen. Eine Namensliste der alten und neuen Inhaber der pädagogischen Lehrstühle an Universitäten und Hochschulen, der ersten Leiter von Volkshochschulen und Jugendhöfen, der Gründer von Jugendringen, der Redakteure von Kultur- und Pädagogikzeitschriften läse sich – wenn es sie denn gäbe – streckenweise wie ein Verzeichnis von Überlebenden aus den 1933 untergegangenen Bünden. Im Deutschen Ausschuss für das Bildungs- und Erziehungswesen (1953-65) trafen sich Freunde aus den Bünden; die Gutachten und Empfehlungen dieses Gremiums sollten daraufhin abgehorcht werden, ob und wie hier Brückenschläge aus der historischen Jugendbewegung und Reformpädagogik in die neue Zeit versucht wurden. Im Freideutschen Kreis, einer 1947 konstituierten Sammlungsbewegung ehemaliger Jugendbewegter, hat man über das „Erbe der Jugendbewegung“ nicht nur geredet, sondern über „Pädagogische Arbeitsgemeinschaften“ und „Bildungspolitische Konferenzen“ Einflussnahme auf die Schul- und Bildungspolitik der Bundesrepublik gesucht. In den wiedererstandenen Tagungsstätten wie Burg Ludwigstein und Burg Rothenfels kamen schon Ende der 1940er Jahre einschlägige Arbeitsgruppen und Konferenzen aller möglichen Kreise und Hochschulen zusammen und diskutierten neue Wege der Pädagogik.

Die wiedergegründeten Gemeinschaften aus den untergegangenen bürgerlichen Bünden, seit 1966 in einem Ring Junger Bünde zusammengeschlossen, kreisten immer neu um zeitgemäße Interpretationen der „Meißnerformel“ von 1913, das bündische Selbstverständnis und eine jugendbewegte Pädagogik; ihre eigene Disparität führte jeweils zu mehr offenen Fragen als schlüssigen Antworten. Die aus der deutschen und internationalen Arbeiterjugendbewegung stammenden heutigen Jugendverbände maßen ihr Selbstverständnis von demokratischer sozialistischer Erziehung an den Vorgaben ihrer Pädagogen aus der Weimarer Republik. Besonders die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken beteiligte sich über zahlreiche Politiker aus ihren Reihen am Aufbau der politischen und jugendpädagogischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Unter anderen Vorzeichen übernahmen Überlebende aus dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands diese Rolle in der SBZ/DDR.

Die Arbeit des Deutschen Bundesjugendringes und seiner Mitgliedsverbände wäre nach reformpädagogischen und jugendbewegten Traditionen zu befragen. Die heutigen Pfadfinderbünde leiteten aus den schlichten ethischen Regeln ihres Gründervaters Baden-Powell eine demokratisch und ökologisch orientierte „Pfadfinderpädagogik“ ab. In Israel sind die Herkunft der Kibbuzpädagogik aus der deutschen jüdischen Jugendbewegung und die Fortentwicklungen der Reformpädagogik im palästinensischen/israelischen Erziehungswesen bewusst. Heutige deutsche Schulmodelle, die sich in der Tradition der Landerziehungsheimbewegung sehen, kennen in der Regel auch die historischen Wechselbeziehungen zwischen Jugendbewegung und Reformpädagogik. Schließlich bietet fast jeder Blick in Biographien und Selbstbiographien von Pädagogen ein „weites Feld“ der Forschung und Erkenntnis über die Prägung mehrerer Generationen durch beide „Bewegungen“.

Was auch immer über diese Nachwirkungen entdeckt und geschrieben werden mag – es wird sich kein deutlich fassbares Bild ergeben. Die im vorliegenden Beitrag vorgeführten Beispiele und Materialhinweise vermitteln einen Einblick in ein Neben- und oft auch Gegeneinander disparater Gruppierungen, Persönlichkeiten und Leitmotive, wie es charakteristisch war sowohl für die Jugendbewegung als auch für die gesamte „Reformpädagogische Bewegung“.

 

(Die Anmerkungen, Literatur- und Quellennachweise sind in dieser Textprobe weggelassen.)

Top