Der Fremdsprachenkorrespondent und Schriftsteller Hildulf Rudolf Flurschütz (1878-1948) zählte zu den Wortführern der völkisch-religiösen Bewegung in Deutschland vor 1933. Aus dem rechten Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung stammend, erstrebte er die Rückgewinnung eines rassistisch begründeten "nordischen Naturglaubens". Seine Grundsatzschriften und Gedichte sowie Liturgien für ein "germanisches" Festjahr prägten Ideologie und Kult dieser Bewegung maßgeblich mit.
Informationen über Flurschütz' Person und Werdegang sucht man in der bisherigen Literatur vergebens; eine Untersuchung der Weltanschauung dieser charismatischen Leitfigur neopaganer Gruppierungen liegt nicht vor. Einen Beginn macht der Beitrag von Winfried Mogge für einen Sammelband über die bürgerliche Jugendbewegung in Sachsen. Die folgende Textprobe gibt Anfang und Schluss des Beitrags wieder.
Titelseite der "Nordungenblätter", Beilage zur Zeitschrift "Rig / Blätter für germanisches Weistum", 1928
"Alte Götter und junge Menschen"
Aus: Winfried Mogge, "Alte Götter und junge Menschen". Hildulf Rudolf Flurschütz und die völkisch-religiöse Jugendbewegung. In: "Vom fröhlichen Wandern". Sächsische Jugendbewegung im Zeitalter der Extreme 1900-1945, hg. von Katja Margarethe Mieth, Justus H. Ulbricht und Elvira Werner. Dresden: Verlag der Kunst 2015 [richtig: 2016], S. 310-321.
„Von der Wiedergeburt germanischer Religion aus dem Geiste der Jugendbewegung“: Mit diesem Vortragsthema meldet sich am 19. Februar 1926 in Leipzig ein Mann zu Wort, der zu den stadtbekannten Persönlichkeiten zählt. Hildulf Rudolf Flurschütz hat sich in seiner Wahlheimatstadt und über Sachsen hinaus einen Namen gemacht als Schriftsteller und Wortführer der völkisch-religiösen Jugendbewegung. Er ist „Weihwart“ – eine Art Oberpriester – eines „junggermanischen Ordens“ Die Nordungen, der die Rückgewinnung eines „nordischen Naturglaubens“ für das deutsche Volk propagiert.
Unermüdlich publiziert Flurschütz Gedichte, Lieder und Programmschriften für seine Gemeinden. In der Öffentlichkeit tritt er in Wandervogel-Kluft mit einem Stab und einer Trommel auf, spricht vom Walten der alten germanischen Götter nach der Befreiung der Deutschen vom Christentum. Die Jugendbewegung spielt in diesem visionär beschworenen Anbruch eines neuen Zeitalters eine entscheidende Rolle; sie ist der Impuls für die Wende in der von „Juda“ und „Rom“ geprägten Leidensgeschichte der Germanen, Flurschütz selbst der Künder des siegreichen „Wandervogelgeistes“, den man nicht rational erklären, sondern nur blutsbedingt erfassen und leben könne. Solcher Irrationalismus verknüpft sich mit radikaler Kulturkritik – die alt-neue Naturreligion verspricht Rettung vor der modernen Menschheitsbedrohung durch „Kirche, Kapital und Kanonen“. „Wir lieben Balder, den Lichten, und geloben, ihn zu lösen aus dem Banne des Reiches der Hel, als die wir die seelenmordende Zivilisation unserer Zeit erkennen.“
Die Geschichte der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg ist reich an prophetischen Gestalten und messianischen Gründern weltverbessernder Gemeinschaften. Mit Flurschütz tritt eine der schillerndsten Figuren in diesen Reigen von Bundesführern und Wanderpredigern, Schul- und Siedlungsgründern, Schriftstellern und Künstlern. Er bleibt von allen wohl der unbekannteste, ja geheimnisvollste. Dieser Dichter taucht in keiner Literaturgeschichte auf; biografische oder autobiografische Veröffentlichungen liegen nicht vor. Eine schmale Überlieferung an persönlichen Dokumenten, Manuskripten, Briefen, Fotografien und Zeichnungen wird in Familienbesitz gehütet. In internen Mitteilungsblättern der Nordungen gibt es einige wenige Hinweise zur Person Flurschütz: eine hymnische Gratulation zum fünfzigsten Geburtstag, Erinnerungen hinterbliebener Getreuer zum hundertsten. Sein Anteil an der Geschichte und Ideologie der Jugendbewegung wurde (wie überhaupt die Rolle der völkisch-religiösen Gruppierungen) bislang kaum beachtet.
Ein Prophet und seine Herkunft
Wer war Georg Rudolf Flurschütz (so sein Name in amtlichen Dokumenten)? Geboren am 8. November 1878 in Hamburg als Sohn eines kleinbürgerlichen Kaufmanns, gestorben am 22. März 1948 in Leipzig – das sind die Eckdaten. Er lebt als polyglotter Fremdsprachen-Korrespondent international tätiger Handelsunternehmen in Hamburg und Paris und zieht 1912 nach Leipzig, ist zweimal verheiratet und hat sieben Kinder. 1922 tritt er aus der evangelisch-lutherischen Landeskirche aus. 1924, mit der Gründung der Nordungen, legt er sich den Vornamen Hildulf zu.
Knapp zehn Jahre nur währt seine Karriere als geistiger Führer dieser Religionsgemeinschaft. Seine Grundsatzschriften, Liturgien und Gedichte werden in weiten Teilen der völkisch-religiösen Bewegung (und von neopaganen Gruppierungen bis heute) rezipiert. 1933/34, beim Übergang der Nordungen in die Deutsche Glaubensbewegung, prägt Flurschütz mit genau ausgearbeiteten Vorgaben für „Jahrlauffeste“ und „Jungvolkweihen“ noch die Festkultur der gesamten Dachorganisation. Er leitet die Ortsgemeinde Leipzig der Deutschen Glaubensbewegung und tritt als deren Werberedner auf, zeichnet auch als Mitherausgeber der Zeitschrift „Deutscher Glaube“. Ende 1935 aber verschwindet er nach internen Kontroversen aus der Arbeit der DG und überhaupt aus der Öffentlichkeit.
Oft nennt Flurschütz den „Wandervogel“ als seine geistige Herkunft, ohne sich selbst genauer in dieser diffusen Gruppierung zu verorten. Einige dürre Informationen in den schriftlichen Quellen ermöglichen eine Zuordnung. Seit unbestimmbarer Zeit, wahrscheinlich seit seiner Rückkehr nach Deutschland gehört Flurschütz zum Bund Deutscher Wanderer, der sich zeitweise Völkische Gemeinschaft nennt und mit den Wandervogel-Bünden mal konkurriert, mal kooperiert – eine ab 1905 aus mehreren Wander- und Naturschutzvereinen zusammenfließende Gründung um den Oberschüler und späteren Arzt Knud Ahlborn (1888–1977) und den Studenten und späteren Volksbildner Ferdinand Goebel (1886–1966). In diesem Bund findet er nach eigener Aussage „den Weg zu völkischer Gesinnung und zu germanischer Gläubigkeit“. Anschließend zählt er sich zum Greifenbund, in dem seit 1915 der Offizier und Wandervogelführer Otger Gräff (1893–1918) und der Schriftsteller und Siedlungsgründer Adalbert Luntowski genannt Reinwald (1883–1934) die zu völkischen Parolen und „Tatgemeinschaften“ tendierenden erwachsenen Wandervögel sammeln. Dessen Führungsgruppe nennt sich Greifenorden. Anfang 1924 firmiert Rudolf Flurschütz als „Gauleiter“ für Sachsen-Thüringen des Greifenringes, Germanische Glaubensgemeinschaft.
Damit ist eine Spur gewiesen in das ideologische, organisatorische und personelle Geflecht im Grenzbereich zwischen bürgerlicher Jugendbewegung und völkisch-religiöser Bewegung. Die 1901 als Schülerverein konstituierte Wandervogel-Bewegung hat sich in jener Zeit bereits ausdifferenziert in die Wander- und Fahrtenbünde der jeweils Jugendlichen einerseits und die Lebens- und Arbeitsgemeinschaften der jungen Erwachsenen andererseits. Das Erlebnis von Krieg und Revolution radikalisiert diese Gemeinschaften und lässt sie heillos zerfallen in weltanschauliche Lager, mit einer besonderen Inbrunst auch für religiöse Fragen. Das bedeutet jedoch, von der Sondergruppe der konfessionellen Bünde abgesehen, keine Nähe zu den traditionellen christlichen Kirchen, die man als autoritäre Garanten der staatlichen Ordnung und Pädagogik erfährt. Vielmehr wird alles registriert und kommentiert und in Kleingruppen auch praktiziert, was seinerzeit an modischen Religionsentwürfen auf dem Markt ist. In einer allen Lagern gemeinsamen neuromantischen Grundstimmung wird die „Natur“ pantheistisch besetzt, wird die „Jugend“ und speziell der „Wandervogel“ zum Träger von Heil und Erlösungshoffnung.
Charakteristisch schon für die Wandervogel-Bünde vor dem Ersten Weltkrieg, dann die Bündische Jugend der Weimarer Republik ist eine mehrheitliche Neigung zu völkischen und völkisch-religiösen Ideologien. Freilich sind die Vorstellungen, was denn „völkisch“ sei, in der Jugendbewegung sehr unterschiedlich. Auch die Entwürfe oder Übernahmen einer „germanischen“ oder „deutschen“ oder „völkischen“ Religion sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Sowohl bei den rechten Bünden der Jugendbewegung als auch bei den Jüngerengruppen der völkisch-religiösen Organisationen gibt es keine systematische Religionslehre. Will man sie einem „Glaubenstyp“ zuordnen, so ist es der „allnordische“ mit germanophilen und rassezüchterischen Phantasien. Das heißt, es geht um die Rekonstruktion einer vorchristlichen „germanischen“ Religion, nicht um die „Eindeutschung“ des Christentums – mithin um das „neuheidnische“ Segment der völkisch-religiösen Bewegung. (…)
Eine Naturreligion und ihre Feindbilder
Die Grundzüge seiner religiösen Vorstellungen hat Flurschütz in zahlreichen Kleinschriften dargestellt, die meist im Selbstverlag der Nordungen erscheinen, ganz oder auszugsweise auch in Periodika der völkisch-religiösen Verbände und der bürgerlichen Jugendbewegung. In den Zeitschriften publiziert er auch eine Menge von Gedichten und Weihesprüchen, von denen einige in einem „Liederheft der Nordungen“ gesammelt werden. Hier finden sich romantische Naturbeseligung und volksliedhafte Schlichtheit neben liturgischer Feierlichkeit und martialischem Kampfruf. Im Mittelpunkt steht in hundertfachen Variationen der Feuer- und Sonnenkult als „wesensgemäße“ Liturgie des „nordischen“ Menschen. Schicksalhafte Aufgabe der Nordungen ist es demnach, die „lange Nacht“ (des Christentums) mit dem „Weckruf“ (des alten Glaubens) zu beenden:
„Horcht, horcht, Trommel ruft! Rollt wie Brandung grauen Meers. Nordlands Götter, Südlands Schrecken, Wachen auf, verjüngt sich recken, Hoch und höher steigen Brände: Zum Gebet erhob‘ne Hände!“
Mit den unterschiedlichen Traditionen und religiösen Vorstellungen der völkischen und jugendbewegten Verbände, die zu unendlichen Konkurrenzkämpfen und Spaltungen führen, gibt Flurschütz sich nicht lange ab. Eine eigene Dogmatik hat er nicht entwickelt, aus den zeitgenössischen Kontroversen um die genaue Formulierung einer „germanischen“ Religion hält er sich heraus. Seine Wirkung verdankt er der Tatsache, dass er in dichterischer Form Visionen entfaltet – dass er „das blutwarme Leben in mitschwingender Gemeinschaft“ und „das Neuland der Seele“ besingt. Dabei wird er nicht müde, den „Wandervogelgeist“ als den „Götterboten“ einer neuen Kultur des deutschen Volkes zu beschwören.
Die nach jahrhundertelanger Unterdrückung zu rettende Religion leitet Flurschütz, wie viele andere Autoren der völkischen Bewegung, aus literarischen Texten ab. Als erste Autorität gilt ihm die „Edda“ als Sammlung von „altnordischen“ Götter- und Heldenliedern, auch Sagen und Märchen sind Quellen des im Untergrund fortlebenden Volksglaubens aus vorchristlicher Zeit. Dabei geht es Flurschütz nicht um eine wissenschaftlich gestützte Wiederbelebung alter heidnischer Götterbilder oder Kultformen. Bewusstseinslagen und Lebensformen des modernen Menschen, weiß er, haben sich so gründlich verändert, dass die bloße Restauration einer verschütteten Religion museal und unwahr wäre. Die alten Mythen und Götternamen können deshalb nur Gleichnisse und Bilder sein, die sich dem von seinen mythischen Wurzeln entfremdeten Menschen noch am ehesten erschließen.
So steht der Allvater Wodan für das männliche, geistige Prinzip, die Allmutter Frigga für das weibliche, natürliche Prinzip, der Göttersohn Balder für das neu entstehende Leben beim gegenseitigen Durchdringen dieser ewig waltenden Mächte. Zu erkennen ist der göttliche Schöpferwille im Werden und Vergehen der Natur. Das Leben des Menschen ist rein diesseitig, bewährt sich auf Erden und lebt fort in den Kindern und Werken. Da gibt es keine demütige „Kreuzesreligion“ mit der Verheißung von Erlösung im Jenseits, sondern den Kampf freier Menschen im dualistischen System von Licht und Finsternis und die Erfüllung im Diesseits. Erkennen kann man den Schöpferwillen nicht mit dem Verstand und nicht mithilfe von Dogmen, sondern mit der Kraft des Unterbewussten und der Seele. Dabei beruft Flurschütz sich auf die neuesten Ergebnisse der Traumforschung, der Psychoanalyse und Parapsychologie.
Auch die Kultformen sollen kein „gemimtes Museum“ sein, sondern Ausdruck einer lebendigen Religiosität mit Schauplätzen und Heiligtümern in Wald, Feld und Flur. Mit Hinweis auf die „tanzenden Götter“ der „alten arischen Völker“ führt der „Weihwart“ zeremonielle Reigentänze um nächtliche Feuer ein. Meditation („Ichauflösung“) und Ekstase („Ichsprengung“) sind ihm Zugänge zum verschütteten „Urwissen“, das in allen nordisch-germanischen Menschen als „Erbwissen“ schlummert. Er selbst kennt die verfemten Traditionen der Seherschaft und beherrscht die priesterlichen Methoden des Verkehrs mit den Göttern.
So differenziert und geistreich diese Ideenwelt auch anmutet – die eingeforderten Konsequenzen sind barbarisch. Da unterscheidet sich Flurschütz nicht von der Mehrzahl der völkischen Theoretiker und Religionsstifter. Die Fiktion einer „arteigenen“ Religion für „germanische“ Menschen geht aus von einer allen anderen überlegenen „nordischen“ Rasse, die allein zur tieferen Geistesmacht befähigt und zur Gottähnlichkeit berufen ist. Diese Qualitäten sind an das „Blut“ gebunden, weshalb „Rassenpflege“ zur Reinigung des „Volkes“ von fremden Bluteinflüssen und orientalischen Religionen nötig und geradezu „Gottesdienst“ ist. Daraus folgt der als Befreiungsschlag ausgelegte Kampf gegen Judentum und Christentum und die abgrundtiefe Verachtung für „minderwertige“ Völker, speziell „Neger“ und „Orientalen“.
Auch nach dem Sieg des Nationalsozialismus glauben Flurschütz und seine Nordungen noch an die eigene elitäre Mission innerhalb der politisch-religiösen Massenbewegung. Bis 1937 erscheinen Neuauflagen der Flurschütz-Schrift „Das ewige Erbe der Deutschen“ mit Parolen vom „deutschen Erwachen, welches im Dritten Reiche seinen politischen Ausdruck findet“. Der Verfasser selbst zeigt sich spätestens zu Beginn des Krieges desillusioniert. Er ist – im Unterschied zu den meisten führenden Persönlichkeiten der völkisch-religiösen Bünde – nie Mitglied der NSDAP und äußert sich verächtlich über das „braune uniformierte Spießertum“. Das Kriegsende 1945 feiert er als Befreiung von der Diktatur. Das Runenstein-Bild in seiner Leipziger Wohnung weicht schon vorher der Reproduktion eines klassischen griechischen Grabreliefs für zwei Athener Krieger und einen Priester – und dem apollinischen Spruch: „Erkenne dich selbst, werde der du bist“.
(Die Anmerkungen, Literatur- und Quellennachweise sind in dieser Textprobe weggelassen.)